Donnerstag, 29. Oktober 2015
Der schöne Schein trügt (leider)


Das Foto stammt aus dem Sommer. Der S. hat es gemacht. Von unserer Unterkunft aus fotografiert. Typische Urlaubs-Idyllen Foto. An sich nichts Besonderes. Abgesehen mal vom Ausblick. Diesen Ausblick gibt es nicht an jeder Straßenecke. Da müssen sie sich schon a bisserl ins Zeug legen und in der Welt herum kurven. Genießen konnte ich dieses kleine und angemietete Balkon-Stillleben nicht immer. Sie wissen ja Tabletten-Kater. Trotzdem dachte ich mir schon schön. In diese Idylle würde ich mich gerne flüchten. Mein anfänglicher Zweifel, der über diesem Ort lag, weil der ungefähr die Größe eines Stecknadelkopfes hat, hatte sich ja bald einmal zerstoben. Ich war gerne an diesem Ort. Der passte von der Größe her ganz hervorragend zu mir. Über die Jahre bin ich ja merklich geschrumpft. Die Zeit hat Luft aus mir abgelassen. Was ich ganz gut finde. Abends saßen der S. und ich wirklich gerne am Balke. Entweder nur so um a bisserl in die Dämmerung hinein zu blödeln, oder wir schauten auf dem Notebook und dem Handy, Tennis in Wimbledon. PC, Notebook, Handy. Der S. hatte ja einiges aufgefahren was es so an technischen Schnickschnack gibt wenn das WLAN läuft. An sich war alles gut und von den Stürmen der Zeit unberührt. Und genau so wollte ich dieses beschauliche, ja malerische kleine Balkonausblick-Idyll auch in Erinnerung behalten. Stress miteinander hatten wir auf diesem Balkon kaum bis auf einen Ausreißer. Auf diesem "Balke" haben wir sitzend unzählige Stunden heruntergerissen.

Morgen schreiben wir ja den 31 Oktober. Gut 3 Monate bis zu einem ¼ Jahr war mit der Erinnerung Abteilung idyllischer Balkon, erinnerungstechnisch alles im grünen Bereich, wie man so schön sagt. Das erinnern und zurück denken, ja schmachten, machte richtig Spaß, weil die Gelsen/Stechmücken um das Erinnerungsbild herumflogen und ich mich nicht andauernd kratzen muss. Vielleicht liegt es an der Zeitumstellung von der Sommerzeit auf die Winterzeit, das plötzlich und für mich völlig überraschend der Lack von dieser recht schönen Erinnerung auf einmal abfiel wie Laub von Herbstbäume. Für die herbstlichen Laubbäume mag es ja durchaus Sinn machen dem Winter lieber nackt gegenüber zu treten. Wirklich eine Wahl haben die ja nicht. Mit meiner Erinnerung verhält es sich da ganz anders. Die sollte schon in aller Pracht und Verklärung blühen. Dafür sind schöne Erinnerungen ja auch gedacht oder nicht. Vielleicht habe ich es mit dem Erinnern auch etwas übertrieben. Ich besitze kein Album in dem alles zum Besten steht und es von schönen Erinnerungen nur so wimmelt. Nicht dass es die nicht irgendwo in mir gibt. Nur fallen sie mir einfach nicht ein. Tabletten-Kater. Deswegen kann es durchaus sein das ich es mit dem idyllischen Balke-Stillleben etwas übertrieben habe. Dunkel wird es ja jetzt schon am späten Nachmittag und der Klappstuhl schmollt auch angepisst in einer Ecke. Möglicherweise war das letzte Mal auf dem „Balke“ abhängen, vielleicht schön mit einer Kaffeetasse vor mir am Tisch und die prächtige Aussicht genießend, genau das einmal zu viel und ich habe mich wie man so schön sagt überfressen. Auf einmal klappte es nicht mehr. Nicht nur das. So nach und nach wurde es richtig übel. Ströme von Flüchtlingen, die ja jetzt durch Kroatien, der sogenanten "Balkonroute", über Österreich Richtung Deutschland ziehen, nicht viel größer als Ameisen, (bitte nicht falsch verstehen), kletterten auf einmal an den Tischbeinen hoch. Abertausende sind das, ein endloser Strom von Menschen, wie aus einem amerikanischen Endzeit Blockbuster, der aber ganz ohne Computergrafik auskommt. Die Kaffeetasse haben die auch schon umgeschmissen und so hungrig wie die nach Friede, Freude und Eierkuchen sind, haben sie sogar den Aschenbecher leergeschaufelt. Über Zigarettenstummel von Glück fallen die her. Schauderlich. Die kommen wirklich mit Mann und Maus. Jung, Alt, ganz jung, unglaublich alt, Schwanger (wegen der Grünen, bei den Grünen kommen immer nur schwangere Frauen), Behinderte, mit nur einem Haxen, blind, taub, im Rollstuhl, posttraumatisch eingegrenzt, wütend und doch erleichtert noch am Leben zu sein. Es ist nicht zu mehr zu überblicken.

Kalt es ist am Balkon geworden, regnen tut es auch inzwischen andauernd, und dort wo am Tisch die Brotkrümel lagen, liegt jetzt dicker Schlamm. Einige von denen sind mit ihren Rollstühlen in diesem Dreck natürlich stecken geblieben. Nicht nur das die mein idyllisches Kleinod in eine mittelschwere Apokalypse verwandelt haben, nein die wollen auch noch das ich ihnen Ersatzteile für die kaputten Rollstühle besorge. Was denken die wer ich bin. Vielleicht der David Alaba. Und sogar der bekennt freimütig in meiner Qualitätszeitung dass er nicht Gott sei. Eventuell liegt es daran das ich mich für nicht besonders zuständig und kompetent halte, ich weiß es nicht, aber jetzt haben sich unter diese Flüchtlinge, überwiegend Syrer, Iraker, Afghanen, Pakistani, die üblichen Verdächtigten halt, auch noch Flüchtlinge aus längst vergessen Aufständen und Kriegen gemischt. Von allen Seiten werde ich jetzt überrannt. Ungarn aus dem Jahr 1956ziger Jahr, russische Kriegsgefangene der Wehrmacht und deutsche Kriegsgefangen der Russen, wild durcheinander gemischt und in ihrem Elend kaum voneinander zu unterscheiden. Eigentlich müssten die längst alle tot sein, zugedeckt von einem Mantel des Schweigens oder Vergessens. Total ausgemergelte KZ-Häftlinge in den schäbigsten Fetzen die man sich nur vorstellen kann, auf ihren Evakuierungsmärschen in den Tod, schwer verängstigte Volksdeutsche, aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, die sich über das Eis des zugefrorene Frische Haff mühen, und jetzt auf einmal 70 Jahre später in meiner süddalmatischen Idylle auftauchen, ausgehungerte Iren, die eigentlich auf den Weg nach Amerika sein müssten, Armenier, bewacht von türkischen Soldaten, die meinen Balkon ganz offensichtlich mit dem wilden Kurdistan verwechseln und knapp am verdursten sind, amerikanische Kriegsgefangene in japanischen Lagern, mit Krätze und hässlichen Ausschlägen, internierte Japener, Kolonnen von gebrochenen Trostfrauen. Es ist ein einziges Tohuwabohu. Heere von Arbeitslosen, in Dreierreihen vor Suppenküchen, auf Zügen sitzend und der Woody Guthrie singt auf seiner Klampfen, "This land is not your land, This land is my land". Es ist die Hölle. Bei dem Aufmarsch an Elend wird das einfach nichts mehr mit einer Ausszeit von der Wirklichkeit. Logisch das ich angepisst aufgestanden bin und die Balkontür hinter mit zugemacht und meine Wohungstür abgedichtet habe. Man weiß ja nie. Deswegen und weil mir nichts besseres einfällt, stelle ich dieses Bild noch einmal online. Der Kontext ist ja jetzt ein anderer. Vielleicht schafft es dieses Foto, in ihnen andere Assoziationen zu wecken. Die Gefahr ist ja groß. Mein Tipp. Versuchen sie einfach nicht zu genau hinzusehen. Die Flasche Eistee die da am Tisch steht, haben die natürlich auch ausgesoffen. War ja nicht anders zu erwarten oder.

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