Mittwoch, 10. Juni 2015
Abschiedsbrief an die Leichtigkeit des Seins
„Die Manien werden im Alter weniger die Ängste bleiben“. Die Nerventante hatte mich vorgewarnt, leise wie es ihre Art ist, in einem Nebensatz, während ich wild mit dem Armen ruderte und mit der Stimme lautmalte und in expressiven Bildern von meinem glorreichen Ausbruch faselte, der wieder mal knapp bevorstand. Das ich nach gelungener Flucht kein anderes sein könnte, wischte ich mit einem Schulterzucken weg, wie junge Wilde das halt so machen, wenn ihnen die Etablierten mit den hängenden Wangen, blöd im weg herumstehen. Geh, dachte ich mit wahnhafter Überheblichkeit geschlagen wie andere mit Blindheit oder einem Sinn für die Wirklichkeit, das wird mich nicht vom Hocker reißen. Mich wird es nicht erwischen. Und wenn, bin ich bestens vorbereitet. Ich schaffe jede Menge Klimmzüge und Liegestütze und ich kann ganze Wochen und Monate mit dem Rücken zur Straße in meinem Klappstuhl ausharren, ohne dass meine menschlichen Bedürfnisse nervös mit den Hufen scharren wie ein Rennpferd und wütend bin ich auch, immer noch wütend wenn es sein muss. Auf was kann ich nicht mehr so genau sagen. Irgendetwas wird mir schon einfallen. Immerhin lese ich regelmäßig Zeitungen (digital wie analog) und Bücher, jede Menge Sach und Lach Bücher sogar. Die sind voll mit Grauslichkeiten. Zehn Minuten in einem Shoa-Bilderbuch geblättert und schon bin ich wieder auf 150. Bitte fühlen sie sich von meinem Holocaust-Fetisch nicht angesprochen. Das ist mein Fetisch. Da wird sich schon was auftun, da mache ich mir keine Sorgen. DichterInnen habe ich auch auf Vorrat. Antonin Artaud, den steckten sie ins Irrenhaus, David Foster Wallace, gut der hat sich erhängt, Paul Celan der sprang in die in Seine, Ingeborg Bachmann, auch kein gutes Beispiel, aber der gute alte Charles Bukowski hielt bis zum bitteren Ende durch und die Frau Elfriede ist auch nicht klein zu kriegen und denken sie nur an die Tagbebücher von Polina Scherebzowa. Jede Zeitepoche braucht offensichtlich eine Tagebuschschreiberin des Grauens. Natürlich weiß ich das die Welt auch gut ist und schön und friedlich und in manchen Momenten beinahe vollkommen. Aber nicht meine. Und auf dem Dachboden der Erinnerung liegt auch noch einiges an Gefühlen herum, das man abstauben oder neu sortieren könnte und schlechte Tage habe ich ja auch, an denen die Paranoia plündernd wie die Vandalen gegen Rom ziehen oder der IS Richtung Tripolis und mit Blut an den Händen, eine neue glorreiche Kultur ausrufen. Ich fühlte mich prächtig in meinem Wahn, ganz bei mir, unsterblich, nicht zu bezwingen oder vom Gegenteil zu überzeugen. Und darauf kommt es ja im Leben auch an, das man sich gut fühlt, nicht glücklich oder erfüllt, fürs Glück das auch eine Momentaufnahme ist, habe ich das falsche Leben, aber doch so gut, das man es allein mit der ganzen Welt aufnehmen könnte, wenn`s unbedingt sein muss. Immer darauf hinarbeiten das einem irgendwann die Flucht in das ganz eigene Leben gelingt. Dass man sich zu etwas formt, das Form hat und Gestalt annimmt, vielleicht wie ein Stein unter Steinen, den die Menschen aufheben oder ansehen, auch wenn irgendwann die Flut kommt und alles vergebens sein muss. So ist nun mal das Leben. Und ich sprang lachend aus dem Stuhl und zeigte meiner Nerventante, wie flink meine Beine sind und wie man einen linken Hacken schlägt, wie man sich wegdruckt, oder zur Seite ausweicht, wenn die Manien im Alter weniger werden und die Ängste bleiben.

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