Dienstag, 7. Februar 2012
Noch ein unordentliches Gefühl
Es war immer nur ein Gefühl, so ein verdammtes Gefühl. Achtzehn Jahre später an einem kalten Samstagabend im Januar, während „Wetten Dass“ läuft und zwei Mädchen mit verbundenen Augen einen Schnuller nur am Geschmack erkennen, bin ich mir völlig sicher, dass es immer nur ein Gefühl, so ein verdammtes Gefühl war, das mich raustrieb in meine Wirklichkeit.
Wenn ich heimlich Vaters teuren Rum soff und die Flasche mit Wasser nach füllte dachte ich an irgendeinen verfemten Ort, der aus nichts anderem bestand als aus innerer Aufregung, Übermut und jugendlichem Leichtsinn.
Wenn ich an der Theke stand mit einem Bier und traumversunken an Euphorien und Phantasmen herumschraubte wie andere Jungs an ihrem Mopeds und Autos;
wenn ich keine Konfrontation oder Auseinandersetzung scheute und auf alles mit voller Wucht zuging, der ewige Rebell, bedingungslos, wütend und mich auflehnte, wo andere Kompromisse suchten und fanden;
wenn ich dann lächelnd im sicheren Gefühl der moralischen Überlegenheit, meinem unaufhaltsamen Untergang zustimmte und diesen süßen Schmerz zu etwas Erhabenen und Einzigartigem hochstilisierte, das mich über die Niederungen der alltäglichen Heuchelei und Verlogenheit schweben ließ;
wenn ich nie zurücksteckte und weiterging, immer weiterging, jähzornig, aufgewühlt und unbeirrbar, ohne zu wissen, wer ich war, vermutlich ein König unter den Bettlern, der dieses oder jenes nicht nötig hatte, dem sein Herz wie verrückt schlug, der frei sein musste, den die zwanghaften Stimmen im Kopf vorantrieben, an die unwirklichsten Orte mit den eigenartigsten Erfahrungen;
wenn ich dann hin und wieder spürte es gefunden zu haben, manchmal war es eine sternenklare Nacht, das Rauschen des Meeres, oder eine Hand, die mich zärtlich hielt und mir unglaublich nette Dinge zuflüsterte, da brach es plötzlich wie im Affekt über mich herein und ich musste mich lossagen, nein zerstören musste ich es, auslöschen und ich spürte tief drinnen, irgendwo zwischen Herz und Arsch, das ich weg musste, jetzt sofort und ohne Antwort.
Die Luft wurde mir einfach zu dick und stickig und nur noch ein Augeblick des Zögerns und ich hätte durch das geschlossene Fenster springen müssen, weil ich nicht wusste wie man so ein Glück aushält.
Wenn die anderen sich verliebten, Händchen haltend ins Kino gingen, das Erwaschenwerden und die imprägnierten Grenzen ausloteten und so was wie ihre Zukunft erahnten, erfühlten und ertasteten und ich immer nur gegenwärtig und nie später, fordernd und unnachgiebig, an etwas festhielt, das alles zu schein schien, obschon es sich zunehmend verflüchtigte, wenn die letzte Kneipe zusperrte und die leeren Straßen auf mich warteten;
wenn ich dann wieder einmal pleite, verängstigt, allein, leergelebt und heimatlos in einem winzigen Zimmer hauste, mein Unglück verfluchend und die Ungerechtigkeit beklagend, eine leere Bockbierflasche gegen die Mauern dieses Gefängnisses warf und verloren meinen nicht sozialversicherten Zähnen beim Verfaulen zusah, während im Kassettenrecorder „und irgendwann bleib i donn durt“ oder „come as you are“ lief und ich nicht wusste, wo dort war und niemand an der Tür klopfte;
wenn ich dann doch wieder hochkam, mir willenlos ausgeliefert, hungrig, gierig, von der Kopfpropaganda indoktriniert, verkrüppelt und entstellt nach neuen Fluchtwegen suchte;
wenn ich wieder und wieder nichts als raus wollte, aus dieser sterbenslangweiligen Welt, die mich anödete, eine Welt die es geschafft, die es zu was gebracht hatte. Eingezäunte Einfamilienhäuser mit Betunyenhecken, Bausparverträgen und Wahrnungen auf den Zigarettenpackungen, dass das Rauchen ihre Gesundheit gefährdet. Und ich ging wieder darauf zu, unbelehrbar, hochmütig, betrunken und trunken, ja ein Wahn, der dich beglückt, ist eine Wahrheit wert die dich zu Boden drückt.
Wenn ich heute Abend unruhig, allein und ein wenig traurig, mit einer Zigarette in der Hand, durch diese stattliche Wohnung gehe, die meinem Vater gehört und ich nicht mehr den unbändigen Drang verspüre diese Welt und ihre bestehenden Verhältnisse zu verfluchen und zu verachten, sondern es nur noch mit einem ungläubigen Achselzucken hinnehme;
wenn ich dann einen kurzen Blick auf den kleinen Wohnzimmertisch werfe, auf dem sich die Tabletten stapeln, dann weiß ich, achtzehn Jahre später mit jeder nur erdenklichen Gewissheit, dass es immer nur ein Gefühl, so ein verdammtes Gefühl war.
Im Übrigen, die beiden Mädchen, haben ihre Wette gewonnen.

Wien, 7 Dezember 2005

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