Mittwoch, 9. Oktober 2013
"Die Drama-Queen des Suffs"
In einer Gesellschaft wie der unsrigen muss jeder etwas sein. Natürlich wäre jeder gerne erfolgreich, berühmt, angesehen oder wenigstens reich. Nur leider geht sich das nicht immer ganz aus. Es spießt sich. Der Weg nach oben wie unten ist mit Leichen gepflastert. Arschlöcher gibt es in jeder sozialen Schicht. Nicht jeder CEO muss ein ausgewiesenes Arschloch sein und nicht jeder Junkie zwangsläufig ein Heiliger. Im 4. Stock, genau in der Wohnung über mir, wohnen seit ein paar Wochen eine Säuferin und ihr Lebensabschnittspartner. Die Wohnung wird von irgendeiner Wohlfahrtseinrichtung zur Verfügung gestellt. Irgendetwas mit betreutem Wohnen. Die Säuferin und ihr Freund haben es nicht so schlecht erwischt. Die Wohnung ist im Grunde eine all inklusive Herberge, der Kategorie D mit Animateur. Von der Säuferin wird im Grunde nichts mehr erwartet. Sie braucht eigentlich nur noch so dasitzen, stricken, traurig in die Glotze starren, einigermaßen mit ihrer Sucht klarkommen und warten bis sie tot vom Hocker fällt. Die Lebensgeschichte der Säuferin kenne ich nicht. Wird schon einiges schief gelaufen sein. Ich kenne das und ich bin der Letzte der den ersten Stein nach ihr wirft. Dafür dass man sein Leben verwirkt hat und die Umstände und der ganze andere Scheiß, muss man sich nicht schämen. Irgendwer muss ja den Säufer, Spieler, Räuber, Schizo, Betrüger, Dealer oder Junkie verkörpern und mit seiner gelebten Biografie ausfüllen. Die Tüchtigen brauchen jemanden auf den sie hinunter sehen können. Das haben sie sich auch redlich verdient. Trotzdem denke ich, dass auch das Scheitern eine Frage des Stils ist. Vor allem das Scheitern. Erst in der Niederlage zeigt sich der wahre Charakter. Es ist leicht sich stillvoll und verschwenderisch zu geben wenn das pralle Leben aus allen Nähten platzt. Wesentlich schwieriger wird es wenn alle Zuversicht versoffen, verzockt oder anderswertig vergeudet wurde und man nicht mehr selbst auf die Beine kommt. Weder heute noch morgen. Damit klarzukommen ist schwierig. Ohne Perspektive zu leben ist eine Kunst. Doch ein Dach über dem Kopf, Heizung, Fressen und Saufen und ein paar kleine Annehmlichkeiten sind für ein verwirktes und vergeudendes Leben durchaus etwas, mit dem man sich anfreunden könnte. Der Dr. Kurt, mein Freund von der Donauinsel hat das verstanden. Der hat kapiert, das für einen Menschen der angepisst im Rinnsal lag, die Träume nicht mehr in den Himmel wachsen. Irgendwann muss man einsehen oder verstehen, dass einem nur noch jene Krümel vom großen Kuchen übrigbleiben, die die anderen beim Essen fallen lassen. Es kommt der Moment wo man sich mit seinem Schicksal arrangieren sollte. Man kann das so sehen oder so, differenziert, emotional aus allen Seiten, beim Vorübergehen oder nur aus der Ferne. Doch eines lässt sich mit Sicherheit sagen, das es die Menschheit wie es die Geschichte zeigt, auch wesentlich unmenschlicher und würdeloser kann als all inklusive Kategorie D. Nur die Säuferin aus dem 4. Stock will das nicht verstehen oder einsehen. Die Säuferin aus dem 4. Stock erträgt es nicht, das in der Post schon lange keine Liebesbriefe mehr liegen, sondern nur ein paar Werbeprospekte von Billigmärkten und ein paar Rechnungen. Die Säuferin aus dem 4. Stock erträgt es nicht das ihr Freund, ein alter, verlebter Verlierer ist, mit Tausend und 1 Falte im Gesicht und 5 Zähnen in der schiefen Fresse, die so braun sind wie meine Oberschenkel im Juli. Dabei ist er nur ihr Spiegelbild. Ich kenne das. Mit zunehmendem Wahnsinn passten sich meine Frauen, Intellektuell wie auch vom Aussehen, immer mehr meiner Lebenssituation an. Die Säuferin aus dem 4. Stock hat sich dafür entschieden, die ihr zugedachte Rolle nicht zu akzeptieren. Die will kein all inklusive der Preisklasse D, im Unterdeck des Schiffes, ohne Balkon und Null Perspektive. Die Säuferin aus dem 4. Stock ist entweder eine alternde Diva oder eine Revolutionärin. Ich denke die ist eine alternde Diva, die noch einmal groß herauskommen möchte. Und dafür tut sie alles in ihrer Ohnmacht stehende. Die Säuferin aus dem 4. Stock wird nicht einfach nur rückfällig und lässt sich dann behandeln oder legt sich hin und säuft weiter bis die Leber in Flammen steht wie eine Landschaft voll blühender Sonnenblumen. Nein die Säuferin aus dem 4. Stock fährt nur die großen Geschütze auf. Die lässt es so richtig krachen. (nicht das erste Mal) Die braucht die große Bühne, mit Geschrei, Gewimmer, Tränen, einem demolierten Aufzug, der Rettung, 9 Mann von der Polizei, und einen verstörter Mann an der Seite, mit dem sie den Boden ihrer Sehn-Sucht aufwischt. Nur das langt dieser Diva nicht. Die will höher hinaus. Diese Bühne der Jämmerlichkeit war nicht groß genug und der Applaus von der falschen Seite viel zu zaghaft. Heute die Draufgabe, die ganz große Show. Noch mehr Rettung, noch mehr Polizei und eine eingeschlagene Wohnungstür, weil sie kurz am Fensterbrett saß und ihr ganzes Unglück in eine Welt hinaus brüllte, die ihr sowieso nicht zuhört. Das müsste sie inzwischen eigentlich verstanden haben. Dann noch ein Großaufgebot der Feuerwehr, mit aufgeblasenem Sprungkissen und jeder Menge Schaulustiger die ihre Handy schon gezückt hatten. Das war genau der Rahmen den sie brauchte. Für einen Augenblick hielt die Dresdner Straße von Türnummer 56 bis 68 den Atem an. So großartig war ihr Verfall anzusehen. „Ich will nicht mehr Leben“, jammert sie, „ich will nicht mehr leben“. Dann spring doch endlich dachte ich mir, spring, Gelegenheit dazu hast du doch in den letzten 45 oder 50 Jahren zu genüge. Natürlich sprang sie nicht. Der Tod ist eindeutig die falsche Bühne für eine alternde Diva deren Filme nicht auf DVD erscheinen.

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