Samstag, 17. September 2011
Casanovas letzte Schlacht
Casanovas letzte Schlacht

Ich habe ein Faible für Wirtschaftsdaten und ökonomische Zusammenhänge .
Inflationsraten, Reallohneinkommen, Leitzinsen, der Ölpreis, Arbeitslosenzahlen, Bilanzierungsvorschriften, Beschäftigungszahlen, Bruttoinlandsprodukt, Exportüberschüsse, Handelsbilanzsaldo, Staatsverschuldung, Maastrichtkriterien, Steuerquote, Arbeitskosten, Wechselkurentwicklung, Produktivitätssteigerungen, Konsumentenvertrauen, Anleihenrendite usw. Im der warmen Zeit hocke ich immer am Handelskai auf einer der Bänke über diesen Daten. Wenn man fix drauf ist, kann man aus diesen Zahlen herauslesen, warum der Nachbar seinen Familienschmuck ins Pfandleihhaus trägt, oder warum derselbe Mann, sein neues achter Eisen aus Titan, mit der goldenen Kreditkarte bezahlt.
Richtig besessen hocke ich über diesen Kennziffern. Einer Universität von innen habe ich natürlich noch nie gesehen. Deswegen hat es seine Zeit gebracht bis ich da einigermaßen durchblickte. Heute weiß ich wer den Krieg im Irak finanzierte. In erster Linie sind das Konfuziustee schlürfende Japaner, ein paar fette arabische Ölscheichs und jede Menge neureicher Chinesen, die mit ihren klimatisierten Limousinen, den heimatlosen Landarbeiter, über die geschundenen Seelen brausen.
Auf der Bank neben mir saß in den letzen vier Jahren immer ein alter Mann.Irgendwann sprach er mich an, besser gesagt er redete einfach drauf los.
82 war er damals. Ein großgewachsener hagerer alter Herr, mit schütterem Haar, das er sich hin und wieder nach hinten kämmte. An den heißen Tagen trug er immer einen Strohhut mit Krause.
Jeden Tag kam er zu selben Zeit immer um viertel vor Zwei. Nach ihm konnte man getrost die Uhr stellen.
Ohne Umschweife erzählte er vom Krieg. Vom Russlandfeldzug, vom Krepieren und Verrecken. "Wir sind da alle zum Verrecken und krepieren angetreten", sagte er immer.
"Aus den Uniformen haben sie uns heraus gebombt". Selten erhob er seine Stimme.
"Nur noch Fetzen sind herum gelegen", klagte er, "nur noch Fetzen". Und in die Helme der Kaputten, er sagte nie Tote, immer nur Kaputte, haben sie hinein gebrunzt. "Zum Fressen haben sie uns auch nichts Richtiges gegeben". Manchmal setzte mitten im Satz er ab und schaute einfach nur verloren in die Ferne. "Diese Schweine, nicht einmal was Anständiges zum Fressen haben wir gehabt. Steif gefroren sind die Kaputten herum gelegen, steif gefroren". Während seine Augen einen einsamen Punkt in der Fremde anvisierten, winkte er mit einer abfällige Handbewegung immer wieder ab. Dann wiederum hatte es den Anschein, als ob seine Hand der verlängerte Arm seiner Erinnerung sei. Mit der Zeit glaubte ich sogar unterscheiden zu können, ob seine Hand vergiss es, oder schau, dort hat es sich zugetragen, sagten.
"Aufgerieben haben sie uns, wir waren das Schlachtviel der Goldfasane und sonst nichts". Über Hitler, den Nationalsozialismus und den Holocaust sprach er nie. Ich verspürte auch nicht den Drang, diesen alten Mann, in einen Diskurs zu verwickeln, der wie alle Diskurse der letzten 50 Jahre auf die Frage der persönlichen Schuld hinauslief. Wenn er sein Programm abgespult hatte, saß er eine Zeitlang ganz still und in sich versunken da. Manchmal schüttelte er einfach nur den Kopf, oder er nahm den Hut ab und strich sein Haar nach hinten. Dann wieder winkte seine Hand ab, während er „huch“ sagte. Wenn er der Sprache überdrüssig war und nicht mehr verrecken, krepieren, nichts zum Fressen, erfroren oder sonst was in der Richtung von sich geben wollte, deute er einfach in irgendeine Richtung und sagte, „hach“, oder „huch“ und winkte ab. Diese abweisenden und von sich weisenden Handbewegungen kannte ich nur zu gut von anderen alten Männern, die wie er nie ganz aus dem Krieg zurück gekommen waren. Ich sagte eigentlich nie etwas. Nie hatte ich das Gefühl das ich nur irgendetwas sagen sollte.
Manchmal brach er seinen Monolog einfach ab. Heute werden Monologe ja gern hinter scheinbar geistreichen Gesprächen versteckt. Der Alte war nicht so. Bei dem wusste man sofort woran man war.
Tagelang saß er dann wieder einfach nur so da, ohne mit mir nur ein einziges Wort zu wechseln.
Irgendwann drehte er sich dann einfach wieder zu mir herüber und begann von Neuen zu erzählen, aber nicht über den Krieg sondern wie es damals nach dem Krieg in Wien so war. Niemals sagte er damals und es waren auch nicht diese üblichen Geschichten, die man sonst so von den Alten zu hören bekommt.
Nie sprach er davon dass es nach dem Krieg nichts gegeben hat. Nie sagte er, das sie nach dem Krieg gar nichts hatten. Nie sagte er, nach dem Krieg war ja nichts da. Im Gegenteil. Er habe nach dem Krieg immer alles gehabt, alles. Wenn er das sagte, zog er immer seine Augenbraun nach oben, während er gleichzeitig mit dem Kopf zustimmend nickte. Seine ganze Körperhaltung, die Stimme, alles an ihn veränderte sich wenn er von der Nachkriegszeit sprach. Und immer hatte er schöne Frauen an seiner Seite. Jede, behauptete er mit merklich Stolz in der Stimme, habe er früher oder später rumgekriegt. Mein Gott was soll man so einen alten Mann schon entgegnen .Der Herbst kam und im nächsten Sommer setzten wir das Gespräch einfach fort. Nicht dass er mir eine Frage nach meinen Befinden stellte. Ich bin mich nicht einmal sicher, dass er sich an mich erinnerte? E setzte sich einfach hin fuhr sich durchs Haar und begann zu erzählen. Seine Kameraden, reihenweise krepierten sie wieder. Einmal rang ich mich doch zu einer Frage durch. "Wie ist das", fragte ich ihn, "wenn man jemanden erschießt?" "Ach", sagte er abwinkend, "die fallen einfach um und dann sind sie kaputt". Im nächsten Satz war er auch schon wieder mit den besten Frauen unterwegs. Nur mit den schönsten und besten Frauen. Hinter teurem Frauen und darauf legte er wert, sei er nie her gewesen, sondern immer nur hinter den Schönsten und Besten. Den ganzen Sommer über wurde wieder nur gestorben und begehrt. Was anderes interessierte ihn nicht, oder nicht mehr. Einen Frühling und ein paar zerquetschte Tage später , traute ich meinen Augen nicht. Da spazierte dieser alte Haudegen und Wüterich, doch glatt mit einer rüstigen älteren Dame an der Hand, lässig den Kai entlang.
Alle Achtung dachte ich dieser Mann lässt den Worten aber Taten folgen.
Letztes Jahr war er wieder da. Händchenhaltend saß er mir seiner Herzensdame auf der Bank neben mir. Als ich zu ihnen hinübersah kam mir irgendetwas eigenartig vor. Es dauerte bis ich es kapierte.
Diese Frau war nicht die Dame aus dem letzten Jahr. Er hatte tatsächlich eine neue Begleiterin mitgebracht. Schmunzelnd und einigermaßen konstatiert legte ich die Zeitungen zur Seite.
Der hat es echt drauf dachte ich. Wie macht der das, der wickelt ja jede um den Finger, die fressen ihm ja direkt aus der Hand. Ich war richtig neidisch auf diesen alten Knacker.
Nächstes Jahr dachte ich mir frage ich ihn einfach wie er das hinkriegt.
Jetzt ist es mitte August. Wie jedes Jahr sitze ich über meinen Zeitungen. Der Ölpreis ist zu hoch. Das heizt die Inflation an. Das wiederum animiert die Gewerkschaften zu hohe Lohnforderungen, was natürlich wieder Auswirkungen auf die Arbeit und Produktionskosten haben kann, falls die Gwerkschaften ihrer Foderungen durchbringen. Sind diese Kosten zu hoch geht das auf die Wettbewerbsfähigkeit, weil die Arbeitsproduktivität sinkt. Zweitrundeneffekte ist der richtige Ausdruck dafür. Und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit führt zu einem Investitionstopp, der wiederum zu steigenden Arbeitslosenzahlen führt, die wiederum sind Steuer treibend. Und höhere Steuern beeinträchtigen den privaten Konsum oder es erhöht sich die Staatsschuld, was wiederum schlecht für die staatlichen Investitionen und die Kreditwürdigkeit des Landes ist. Ein schlechteres Rating bedeutet wiederum höhere Zinsen und höhere Zinsbelastungen und Steuerausfälle führen zu Einschnitten im Sozialsystem und größere Einschnitte im Sozialsystem können dazu führen, das der Nachbar seinen Familienschmuck ins Pfandhaus trägt. Der alte Mann ist bis jetzt noch nicht aufgetaucht. Wenn ich mit dem Rad die Donau entlang fahre halte ich manchmal Ausschau. nach ihn.
Heute kam seine Begleiterin aus dem letzten Jahr. Sie setzte sich auf die Bank neben mir. Ein Lächeln hüpfte über mein Gesicht. Als sie aber ein Stück Weißbrot zwischen ihren Fingern zu zerteilen begann, zerfiel mein Freude, schlagartig, Ich hielt kurz inne und ein trauriges "Huch" stolperte über meine Lippen. Es war ziemlich offensichtlich. Ciacomo "Stalingrad" Casanova hatte seine letzte Schlacht geschlagen.

Wien September 2003

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